Alter, Geschlecht oder Bildung: Was prägt die Religiosität in Deutschland?
Wir haben die Frage gestellt: Welchen Einfluss übt die Sozialstruktur in Deutschland auf Religiosität und Kirchenbindung aus? Und Achtung, Spoiler-Alarm: Die Antworten auf diese Frage sind mindestens genauso vielfältig wie die daraus resultierenden Schlussfolgerungen!
Auf einen Blick
Die spannendsten Ergebnisse
Die einst vorhandenen Geschlechterunterschiede in Bezug auf Religiosität und Kirchenbindung haben sich mittlerweile fast vollständig aufgelöst.
Religiosität nimmt in Deutschland insgesamt von Generation zu Generation ab. Kirchlich geprägte Religiosität verweilt jedoch seit der 1968er-Generation auf einem stabilen Niveau.
Sozial Benachteiligte verlieren zunehmend den Anschluss an die Kirche.
Die überwiegende Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder fühlt sich ihrer Kirche verbunden.
Generationenvergleich
Jesus und seine Jüngeren: Wie unterscheidet sich die Religiosität zwischen den Generationen?
Das Wichtigste
Religiosität nimmt in Deutschland von Generation zu Generation ab.
In der jüngsten Generation der 14- bis 29-Jährigen liegt sowohl die kirchennahe Religiosität als auch die kirchenferne Religiosität am niedrigsten.
Nachdem die kirchennahe Religiosität im Zuge der 1968er-Generation einen starken Einbruch erlitten hat, verweilt sie seitdem auf stabilem Niveau.
Wie religiös eine Generation ist, hängt entscheidend von der religiösen Sozialisation der jeweiligen Generation in ihrer Kinder- und Jugendzeit ab. Wer als Kind signifikant mit kirchennaher Religiosität in Berührung gekommen ist, wird voraussichtlich auch im letzten Lebensdrittel wieder religiöser.
Die kirchenferne Religiosität nimmt in Deutschland zunächst von Generation zu Generation zu. Sie erreicht ihren Höhepunkt bei den 45- bis 59-Jährigen, die während der Esoterik- und Spiritualitätswelle in den 1980er und 1990er Jahren sozialisiert wurden. Dahingegen fällt die kirchenferne Religiosität in den jüngeren Generationen stark ab.
Geschlechterunterschiede
Die frohe Botschaft: Männer und Frauen fühlen sich der Kirche fast gleich stark verbunden
Das Wichtigste
Die Geschlechterunterschiede in Bezug zur Religiosität und Kirchenbindung haben sich fast vollständig aufgelöst.
Fast 70 Prozent aller Männer und Frauen in der evangelischen Kirche fühlen sich ihrer Kirche zumindest etwas verbunden.
Frauen befürworten die Segnung homosexueller Paare deutlich häufiger als Männer.
Frauen möchten ihr kirchliches Engagement stärker als Männer selbst mitgestalten.
Prozentanteil der evangelischen Kirchenmitglieder von 1972 bis heute, die sich zumindest „etwas“ mit ihrer Kirche verbunden fühlen, differenziert nach Geschlecht.
Frauen sind religiöser als Männer – dieses Vorurteil galt in der Gesellschaft für lange Zeit. Die empirische Forschung zeigt jedoch, dass die Religiosität von Frauen und Männern durch unterschiedliche Faktoren wie dem sozialen Kontext und vor allem dem Grad der erreichten Gleichberechtigung beeinflusst wird.
Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung werden die Geschlechterunterschiede in Sachen Religion immer kleiner und verschwinden zunehmend. Dieser Prozess lässt sich auch anhand der KMU-Daten von 1972 bis heute belegen: Vor 50 Jahren fühlten sich in der evangelischen Kirche noch rund 15 Prozent mehr Frauen als Männer mit der Kirche verbunden. Dieser Unterschied ist in den vergangenen Jahrzehnten immer kleiner geworden und hat sich inzwischen fast vollständig aufgelöst.
Ökonomische Lage und Bildung
Statussymbol Kirche? So beeinflusst der soziale Status die Religiosität
Das Wichtigste
Menschen mit einem hohen sozialen Status sind stärker kirchlich-religiös und fühlen sich der Kirche enger verbunden als Menschen mit einem niedrigen sozialen Status.
Personen, die ihre wirtschaftliche Lage als gut einstufen, sind der kirchennahen Religiosität stärker zugeneigt als andere.
Gebildete beteiligen sich überdurchschnittlich häufig am kirchlichen Leben.
Je höher die Schulbildung ist, desto geringer ist die kirchenferne Religiosität ausgeprägt.
Kurzer Rückblick ins Jahr 1972: Damals kam die erste KMU zu dem Ergebnis, dass ein höheres Bildungsniveau zu einer geringeren Religiosität und Kirchenbindung führt. 50 Jahre später zeigt sich ein anderes Bild: Heute steht die Schulbildung nicht mehr im Zusammenhang mit dem Kirchgang, dem Kirchenvertrauen, der Bedeutung von Religion für das eigene Leben und der säkularen Orientierung.
Anders als im Jahr 1972 sind Menschen mit einem hohen Sozialstatus heute stärker kirchlich-religiös und stärker an die Kirche gebunden als Menschen mit einem niedrigen Sozialstatus. Es droht also die Gefahr, dass Menschen, die im Bildungsprozess auf der Strecke bleiben, auch im kirchlichen Leben kaum noch präsent sind.
Kirchlich religiös sind eher Menschen, deren wirtschaftliche und soziale Lage gut ist. Um zukunftsfähig zu sein, muss Kirche aber auch stärker für Menschen da sein, die eine gesellschaftlich schwache Stellung haben oder gar ausgeschlossen werden.
Dr. Volker Jung, Kirchenpräsident der EKD
Soziale Milieus
Zwischen Tradition und Moderne: In welchen Milieus ist Religiosität am stärksten verbreitet?
Das Wichtigste
In traditionsorientierten Milieus mit einem gehobenen Lebensstandard ist die kirchennahe Religiosität am weitesten verbreitet.
In modernen Milieus mit einem niedrigen Lebensstandard ist die kirchennahe Religiosität am wenigsten verbreitet.
Die kirchennahe Religiosität in Deutschland unterliegt einer gewissen Milieuverengung: Sozial Benachteiligte und marginalisierte Gruppen sehen in der Kirche tendenziell keine Heimat mehr. Zugleich führt auch die oft als Modernisierung bezeichnete Auflösung von Traditionen bei den jüngeren Generationen zu einem kulturellen Wertewandel.
Perspektiven kirchlichen Handelns
In sechs Schritten zu mehr sozialer Vielfalt
1.
Lebensnah begleiten
Religiöse Sozialisation hängt entscheidend davon ab, dass Kirchen den Fokus auf die jeweils jüngste Generation richten. Daneben steht die Herausforderung, Menschen in ihrer religiösen Entwicklung zu begleiten und dabei besonders die biografischen Wendepunkte im Blick zu haben.
2.
Diskriminierende Strukturen abbauen
Kirchliche Strukturen sollten weiter mit dem Ziel umgebaut werden, dass Menschen aller Geschlechter gleichberechtigt an Entscheidungen und Verantwortung teilhaben.
3.
Engagement nutzen
Kirchliche Religiosität ist in den Generationen nach der 68er-Bewegung relativ stabil. Mit diesem Pfund können Kirchen wuchern. An vielen Orten gibt es derzeit Menschen, die – sei es beruflich oder in einem Ehrenamt – für Kirche stehen und an die Menschen sich mit religiösen Anliegen wenden können.
4.
Vielfalt zulassen
Menschen orientieren sich religiös unterschiedlich. Deshalb ist es Aufgabe kirchlich Verantwortlicher, für unterschiedliche Beteiligungsformate und ein breites Angebot religiöser Ausdrucksfähigkeit zu sorgen.
5.
Agiler werden
Kirchliches Leben sollte auch in Zukunft mit rasch voranschreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten. Deshalb braucht die Kirche Strukturen, die bewegliche, agile, fluide Formate unterstützen.
6.
Inklusiv handeln
Auch in Zukunft bleibt es wichtig, dass kirchliche Arbeit sich an Menschen orientiert, die gesellschaftlich übersehen und an den Rand gedrängt werden.
Jetzt sind Sie gefragt!
Wie gestaltet sich die Sozialstruktur der Besucher*innen Ihrer Gemeinde? Wie müssten sich kirchliche Angebote verändern, um in Zukunft Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu erreichen? Teilen Sie uns Ihre Gedanken, Ideen und Impulse jetzt per E-Mail an info@ekd.de mit!