Choosing my Religion: Das Koordinatensystem deutscher Religiosität
Wir wollten wissen: Welche verschiedenen Formen von Religiosität gibt es? Die Unterscheidungen liefern mehrere spannende Erkenntnisse. Dabei kennzeichnet sich jeder Orientierungstyp durch einige Besonderheiten.
Auf einen Blick
Die spannendsten Ergebnisse
Religiosität in Deutschland hat zwei Dimensionen: die kirchennahe und die kirchenferne Religiosität.
Sowohl die kirchennahe als auch die kirchenferne Religiosität sind rückläufig. Die kirchenferne Religiosität sinkt jedoch am schnellsten.
Beide Dimensionen der Religiosität schließen einander nicht aus.
Aus den zwei Dimensionen ergeben sich vier religiös-säkulare Orientierungstypen: die Kirchlich-Religiösen, die Religiös-Distanzierten, die Säkularen und die Alternativen. Diese Religiositätstypen lassen sich wiederum in weitere Subtypen unterteilen.
Mit einem Anteil von 56 Prozent gehört die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Gruppe der Säkularen an. Diese Gruppe gilt als kaum noch religiös ansprechbar.
Kirchlich-Religiöse
Gottlob treu: Kirchlich-Religiöse sind fest in der Gesellschaft verankert
13 Prozent der deutschen Bevölkerung gehören zur Gruppe der Kirchlich-Religiösen – davon stammen 14 Prozent aus West- und neun Prozent aus Ostdeutschland.
96 Prozent aller Kirchlich-Religiösen sind Kirchenmitglieder.
Dieser Orientierungstyp zeichnet sich durch eine kirchlich orientierte Religiosität aus, die für ihre jeweilige Lebenswelt relevant ist.
Kirchlich-Religiöse sind gesellschaftlich überdurchschnittlich stark integriert, verfügen meist über eine vergleichsweise hohe Schulbildung und sind wirtschaftlich gut aufgestellt. Außerdem zeichnet sie ein hohes Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und Traditionen aus.
Das Durchschnittsalter beträgt 54 Jahre und ist damit das höchste unter allen vier Religionstypen.
Von der Gruppe der Kirchlich-Religiösen entfallen 53 Prozent auf Katholik*innen, 42 Prozent auf Protestant*innen und fünf Prozent auf Konfessionslose. Innerhalb der Gruppe lässt sich zwischen den Religiös-Geschlossenen einerseits und den Religiös-Offenen andererseits unterscheiden. Beide Gruppen machen jeweils etwa die Hälfte der Kirchlich-Religiösen aus. Während sich die Religiös-Geschlossenen auf kirchliche Traditionen konzentrieren und deutlich von kirchenferner Religiosität abgrenzen, stehen die Religiös-Offenen beidem deutlich aufgeschlossener gegenüber.
Das hohe Durchschnittsalter der Kirchlich-Religiösen macht klar: Der Rückgang dieser Gruppe ist nur eine Frage der Zeit. Da die formale Kirchenmitgliedschaft nicht als Definitionskriterium gilt, finden sich hier auch Konfessionslose.
Religiös-Distanzierte
Denn sie wissen, worum es geht – auch wenn man sie nicht in der Kirche sieht
Ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland lässt sich der Gruppe der Religiös-Distanzierten zuordnen – davon 27 Prozent aus West- und 13 Prozent aus Ostdeutschland.
84 Prozent der Religiös-Distanzierten sind Kirchenmitglieder. 16 Prozent sind konfessionslos.
Eine engere soziale Anbindung an kirchliche Strukturen ist bei dieser Gruppe nicht festzustellen.
Menschen in dieser Gruppe sind trotz räumlicher Ferne religiös sprachfähig – denn sie haben Fragen, Zweifel und eine Ahnung, wer oder was Gott für sie sein könnte.
Ihr soziodemografisches Profil ist unauffällig und entspricht dem Bevölkerungsdurchschnitt. Das Durchschnittsalter beträgt 50 Jahre.
Die Mehrheit der Religiös-Distanzierten ist trotz ihrer Skepsis nach wie vor Mitglied der Kirche. So unterteilt sich die Gruppe in 44 Prozent Katholik*innen, 38 Prozent Protestant*innen sowie 18 Prozent Konfessionslose. Religiös-Distanzierte befassen sich mit religiösen Fragen wie auch Zweifeln und können von den Kirchen daher weiterhin angesprochen und erreicht werden.
Die Gruppe der Religiös-Distanzierten gliedert sich in drei Subtypen mit fließenden Übergängen. In der ersten Gruppe der Distanziert-Kirchlichen sind überdurchschnittlich viele sozial benachteiligte Menschen vertreten. Sie erleben Religiosität diffus und vielfältig. Dieses religiöse Erleben hat seine Wurzeln in einer kirchennahen Religiosität, die in frühen Lebensphasen bestand.
Die zweite Gruppe der Distanziert-Alternativen bezieht sich stärker auf Elemente kirchenferner Religiosität. Demgegenüber ist der religiöse Entfremdungsprozess in der dritten Gruppe der Distanziert-Säkularen bereits weit fortgeschritten. Dennoch stehen Distanziert-Säkulare religiösen Themen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber und es ist möglich, mit ihnen über religiöse Fragen in Kontakt zu treten.
Säkulare
Gegen Konfession und Tradition: Säkulare wandeln auf anderen Pfaden
56 Prozent der deutschen Bevölkerung zählen zur Gruppe der Säkularen – davon 73 Prozent der Ost- und 53 Prozent der Westdeutschen.
Die Gruppe der Säkularen gibt an, dass Religiosität in ihrem Leben keine Rolle spielt. Sie gilt als kaum mehr religiös ansprechbar.
Das Durchschnittsalter der Säkularen liegt mit 47 Jahren vergleichsweise niedrig.
Neben 65 Prozent der Konfessionslosen gelten auch 39 Prozent der evangelischen und 35 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder als Säkulare.
Neun Prozent der Säkularen schätzen ihre wirtschaftliche Lage als schlecht ein. Damit bewerten die Säkularen ihre wirtschaftliche Situation häufiger schlecht als Kirchlich-Religiöse und Religiös-Distanzierte, aber weniger schlecht als Alternative.
43 Prozent der Säkularen haben mindestens das Abitur gemacht. Damit liegt das Bildungsniveau in der Gruppe der Säkularen am höchsten.
Für 68 Prozent der Säkularen ist Selbstverwirklichung wichtig. In keiner anderen Gruppe liegt dieser Prozentsatz höher.
In der Gruppe der Säkularen entfallen 67 Prozent auf Konfessionslose und jeweils 16 Prozent auf evangelische und katholische Kirchenmitglieder. Darüber hinaus lässt sich zwischen Säkular-Geschlossenen, Indifferenten sowie Säkular-Offenen unterscheiden. Auf die Säkular-Geschlossenen entfallen 36 Prozent der deutschen Bevölkerung. Sie betrachten Religion als überholt und schädlich, ein szientistisch-naturalistisches Weltbild ist für sie prägend. Bei den Indifferenten hingegen herrscht hinsichtlich ihrer Einstellung zu Religion eher ein Gefühl der Gleichgültigkeit vor.
Das Weltbild der Säkular-Offenen kennzeichnet sich durch eine bunte Mischung verschiedener weltanschaulicher Versatzstücke. In dieser säkular geprägten Weltanschauung ist für Religion nur wenig Platz.
Alternative
Klein, kirchenfern und doch verschieden
Sechs Prozent der deutschen Bevölkerung werden zum Orientierungstyp der Alternativen gezählt.
Die Gruppe der Alternativen eint eine hohe Zustimmung zu kirchenfernen religiösen Orientierungen. Kirchennahe Religiosität findet sich bei ihnen im Spektrum gering bis mittel ausgeprägt.
Die Alternativen schätzen gesellschaftliches Engagement eher wenig und weisen eine tendenziell geringe Schulbildung auf. Dabei sind sie überdurchschnittlich offen für Neues und schätzen Kreativität und Selbstverwirklichung. Das Durchschnittsalter dieses Orientierungstyps beträgt 51 Jahre.
Unter den Alternativen ist ein Hang zum Populismus feststellbar.
Die Gruppe der Alternativen gliedert sich in 42 Prozent Konfessionslose, 32 Prozent Katholik*innen und 27 Prozent Protestant*innen. Darüber hinaus lässt sie sich in Esoterische und Hedonistisch-Heterodoxe unterteilen. Für Esoterische ist Religiosität ein wichtiges Lebensthema. Während ihrer primär kirchenfernen Religiosität durchaus auch Elemente kirchennaher Religiosität beigemischt sind, sind diese bei den Hedonistisch-Heterodoxen kaum zu finden. Sie befinden sich in dieser Hinsicht auf dem Niveau der Säkularen. Bei ihnen liegt eine Distanz zu den gesellschaftlichen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur vor. Kirchenferner Religiosität wird zwar zugestimmt, jedoch ohne eine lebensweltliche Relevanz zu besitzen.
Wie Kirchlich-Religiöse sind Esoterische tendenziell überaltert, während der Hedonistisch-Heterodoxe Subtyp ein tendenziell junges Durchschnittsalter aufweist. Unter den Esoterischen finden sich erstaunlich viele katholische Kirchenmitglieder (39 Prozent), der Anteil der Konfessionslosen ist eher unterdurchschnittlich (25 Prozent) – anders als beim anderen Subtyp (61 Prozent Konfessionslose).
Der Bevölkerungsanteil der Alternativen ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten schneller geschrumpft als der Anteil der Kirchlich-Religiösen.
Bei den Esoterischen fällt auf, dass es der einzige Typ ist, bei dem der Glaube an Gott im Lebensverlauf zugenommen hat, auch wenn das in den seltensten Fällen christlich begründet wird.
Zuordnung der in der Stichprobe der KMU 6 enthaltenen Muslima und Muslime zu den vier Orientierungstypen
Die Hälfte der befragten Muslima und Muslime sind Religiös-Distanzierte. Jeweils zu einem Viertel handelt es sich um Säkulare oder um Menschen mit einer religiösen Orientierung, die der der Kirchlich-Religiösen entspricht. Alternative sind unter ihnen kaum vorhanden.
Die KMU 6 trifft keine Aussagen über andere nicht-christliche Religionsgemeinschaften, da von diesen zu wenige Personen in der Stichprobe der Befragung enthalten sind.
Jetzt sind Sie gefragt!
Welche religiösen Orientierungstypen begegnen Ihnen im kirchlichen Alltag am häufigsten? Welche neuen Schwerpunkte könnte die Kirche setzen, um mit allen Religiositätstypen ins Gespräch zu kommen oder im Gespräch zu bleiben? Teilen Sie uns Ihre Gedanken, Ideen und Impulse jetzt per E-Mail an info@ekd.de mit!